2016-09-26

Liebe Musikfreunde,

EPM sind derart entschleunigt, dass ich mir erlaube, im Folgenden noch mehrere Monate nach zwei Konzertreisen eine kleine, ganz persönliche Berichterstattung nachzureichen. 

Herzlichst,
Kehbel

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Weekender Ludwigshafen + Pott 

Es gibt ein neues Gesicht in der EPM Entourage, wir hatten vor einiger Zeit bereits eine Ausfahrt nach Aachen mit einem gewissen Negele am Steuer unternommen. Daher soll im Vorfeld diese kleine Anekdote nicht unerwähnt bleiben:
Am Morgen nach der Show traf man sich im winzigen Frühstücksraum des "Ibis". Negele war in Erzähl-Laune und gab ein paar sehr erheiternde Anekdoten von seiner Zeit in der Giesserei beim Daimler zum Besten. Hauptfigur seiner Geschichten war Jochen, ein Koloss von Mann, der zu jedem Frühstück immer einen kompletten Laib Brot mitbrachte, um ihn längs aufzuschneiden und mit Unmengen von Aufschnitt und sonstigem essbaren Unrat zu beladen. Das ganze wurde dann wieder zugeklappt und als "Sandwich" von dem maßlosen Schichtarbeiter gefressen. Die ganze Band lag recht schnell in Tränen vor Lachen aufgrund der blumigen Ausführungen des neuen Merchers. Er legte noch nach und beschrieb die Lebensumstände seines damaligen Arbeitskollegen: Die Mercedes-Limousine stehe seit Jahren gut gepflegt aber ungefahren in der Scheune seines Anwesens; Jochen sei in seinem ganzen Leben noch nie ausserhalb des Großraums Stuttgart geschweige denn im Ausland gewesen. Der hoch bezahlte Malocher steckte einmal in einer ernsthaften Lebenskrise, als seine neue Freundin mit Patchwork-Sohn im Haus einziehen sollten. Jochen stand nun vor der scheinbar unlösbaren Aufgabe, Platz für die riesige VHS-Pornosammlung schaffen zu müssen, die bislang ein komplettes Zimmer einnahm.
Mir fiel damals auf, dass Negele im Rahmen seiner Erzählungen den Reichtum eines Mannes anhand von Sendra Boots bemaß. Auf mein Nachfragen hin erklärte er mir, dass es sich um eine bekannte Cowboystiefel-Marke handelt. Er selber besitze zwei Paar, Tattoo-Willi zwanzig Paar und Giesserei-Jochen gar zweihundertzwanzig Paar des besagten Schuhwerks. Um mir ein genaueres Bild von den unterschiedlichen Designs der Sendra Boots zu machen, tippte ich den Markennahmen umgehend in mein Handy und staunte nicht schlecht über die Variantenvielfalt der ledernen Geschmacklosigkeiten. Seitdem verziert mindestens ein Modell Sendra Boots jede beliebige Internetseite mit Anzeigencontent, die ich aufrufe. Das Internet will offensichtlich auch nach Monaten noch wissen, ob ich nicht doch ein Kauf-Interesse an dem reich verzierten Proll-Accessoire habe.

Diesmal geht es an einem Freitag zum Auftakt des Konzert-Biathlons zu Ehren des Platten-Jubilars Cobra. Vor der Abfahrt trifft man sich wie immer am Proberaum, Negele ist erfreulicher Weise wieder dabei. Der End-Dreissiger ist übrigens laut Jogges "Fahrer, Mercher und Augenweide in Einem". Ich würde noch das Attribut "Fashion-Ikone" hinzufügen, denn der unrasierte Neuling kreuzt heute im Denim Demon Look auf. Das freut mich, denn es deutet auf einen gefestigten Charakter hin. Auch ich kombiniere bereits seit den 70er Jahren gerne Jeans mit Jeans und bin im Laufe der Jahrzehnte abwechselnd Bewunderung und Spott ausgesetzt gewesen. Momentan stehen die Zeichen zwar wieder eher auf "kann man machen", aber ich schätze, der schwäbische Beau hat sich bereits ein Bild von den häufigen Richtungsänderungen im Normenkatalog der Modepolizei machen können und genau wie ich beschlossen, deren Diktat zu ignorieren.
Der Konzertort in Ludwigshafen besticht vor allem durch schlechte Auffindbarkeit und Szene-fremden Publikumsverkehr, wir treten in einer Fussgänger-Unterführung unweit des Bahnhofs auf. Ich mache noch Bekanntschaft mit drei Fetties in einem der angrenzenden Proberäume. Nachdem sich die jungen Männer aber als wortkarge Apotheker herausstellen, suche ich schnell das Weite. Überraschender Weise erscheint auch mein alter Kumpel Doc Bro zu der Veranstaltung, er hat die Mitglieder seiner neuen Band "Peitsche" mitgenommen. Deren Sänger rüttelt bereits mit dem ersten ausgesprochenen Satz sowohl an meinem Ego als auch an meiner Ausgeglichenheit. Zur Strafe mache ich ein Bandfoto; ihr dürft raten, wer der Unsympath in der Kapelle ist (kleiner Tip: keine Glatze).


Nach der Show machen wir uns in einer Nachtfahrt direkt auf den Weg zur Residenz des  Schlangenmanns. Ich wage kurz nach Abfahrt die Prognose, dass Cobra mit seinem Bauvorhaben im Keller kein Stück weitergekommen ist. Bei unserem letzten Besuch vor ca. 2 Jahren zierte noch ein stattlicher Schutthaufen die Mitte des unterirdischen Rohbaus, in dem mal das Bad des Hauses Cobra entstehen sollte. Bei unserem Label-Boss in Herne angekommen, spreche ich ihn zur Begrüßung natürlich sofort auf die für ihn unangenehme Thematik an. Ich bin erstaunt, dass Cobra es diesmal geschafft hat mich zu überraschen: Statt einen Schritt nach Vorne oder nach Hinten, hat er mit seinem baulichen Großprojekt einen Schritt zur Seite gemacht. Die Baustelle im Keller ist weitestgehend unverändert, der hüfthohe Schutthaufen hat aber nun eine neue Heimat in Cobras Garten gefunden. Der Hausherr bekommt natürlich sofort meinen Spott zu spüren. Meine Bandkollegen ereifern sich, meine Kritik als undankbar und unangemessen darzustellen. Cobra zeigt aber wie immer menschliche Größe und versteht, dass es sich nicht um die Pöbeleien eines Gastes, sondern um den gut gemeinten Rat eines Freundes handelt. Der Schlangenmann wiegelt ab und schlägt vor, mich spontan mit den innenarchitektonischen Details seines Bauvorhabens vertraut zu machen. Zu diesem Zweck zückt er Baupläne und aufwendige Renderings, die den Endzustand des Kellerausbaus wiedergeben sollen. Aus den Unterlagen geht hervor, dass Cobra beabsichtigt, eine Wellness-Oase im Untergeschoss seiner Backsteinbude zu erschaffen. 
Gegen Ende dieses Weekenders wird er sich noch von mir mit dem Versprechen verabschieden, bei unserem nächsten Besuch alle Bauarbeiten abgeschlossen zu haben.


Mir fällt in Cobras Küche eine ungewöhnlich große Flasche mit Mississippi-BBQ-Sauce auf und nach Begutachtung des aufgeklebten Preisschildes spreche ich den Schlangenmann darauf an, wo man denn bitteschön 2 Liter Grillsauce für vier Euro erstehen kann. Schwärmerisch erzählt er von einem Lebensmittel-Outlet zwei Straßen weiter und wir beschließen, vor dem anstehenden Konzert zu zweit noch einen Abstecher im Schnäppchen-Deli zu machen. Ich erwerbe besagte Flasche mit braun-rotem Inhalt sowie mehrere Flaschen der hervorragenden Lea & Perrins Worcester Sauce zum Spott-Preis. Das Personal, inclusive des älteren Herren, der in einer Ecke des Supermarktes sitzt und "Bild" liest, erfüllt alle bekannten Stereotype der strukturschwachen Region. Ich rate der Stadt Herne hiermit, ihre Stadtrundfahrten mit selbstbalancierenden Fahrzeugen so anzulegen, dass die Segway-Raupen sich auch durch dieses Kleinod des Einzelhandels winden.

Am Kai angekommen (das heutige Konzert findet auf einem Ausflugsschiff auf dem Rhein-Herne-Kanal statt) trifft man sich mit dem üblichen "Hallo", "Tach" und "Jessas!". 
Es ist kaum zu übersehen, dass es im Ruhrgebiet kürzlich zu einer massiven Umverteilung von Körperfett gekommen sein muss: Pete hat ordentlich ab- und Vega reichlich zugelegt. Letzterer hat, wie bei Latinos so üblich (so viel Rassismus muss erlaubt sein), gleich zwei Perlen im Schlepptau.
Nobbie scheint seinen Bekanntheitsgrad in den letzten zwei Jahren so gesteigert zu haben, dass nun ein eigener Paparazzo zu seinem Trupp zählt. Der schiesswütige Foto-Jessy-James eckt schon ab der ersten Belichtung sofort bei Jogges unwissentlich an. Ich besänftige unseren Frontmann mit dem Hinweis, dass er zumindest von diesem Nachmittag ein paar sehr gelungene Schnappschüsse erwarten kann. Daher lasse ich mir noch vor dem Boarden eine Karte des Foto-Nazis mit zittriger Hand überreichen. Zum Glück hat er ein leistungsstarkes Blitzgerät mit seinem Pixel-Boliden gekoppelt, wie ich später erfahre gehört das vermeintliche körperliche Manko der Zittrigkeit zu Dannies künstlerischem Stil.
Kurz vor unserem Auftritt gehe ich noch mit Nico und seinem vorlauten Freund auf das Zwischendeck, um eine Zigarette zu rauchen. Ungeachtet des bewegungsscheuen Publikums habe ich reichlich Spass bei der Show. Allein die Tatsache auf einem Schiff zu spielen bereitet mir sehr viel Genugtuung. Letztes Jahr, nach unserer musikalischen Hafenausfahrt in Hamburg, habe ich mich bereits zu der Aussage hinreissen lassen, ich würde "nie wieder auf etwas anderem als einem Boot spielen".


Während Nobbies Set verspüre ich tiefen Respekt, sich so gefühlsbewegt vor eine Meute Punker zu stellen. Bonzo geht es wahrscheinlich genauso, trotzdem lässt er es sich nicht nehmen, mitten in einem besonders andächtigem Song, quer über das Schiffsdeck lautstark eine neue Bierbestellung aufzugeben. Im Augenwinkel sehe ich, wie Kleefischs Verlobte unserem Drummer für diese Flegelei umgehend und zu Recht eine pfeffert.
Don Vega schafft es tatsächlich, im kompletten Verlauf der Schiffsreise nicht seinen Sitzplatz am Tisch zu verlassen. Als wir gegen Abend wieder am Kai anlanden, äussert der schwergewichtige Argentinier sein Bedürfnis, nun ein erfrischendes Bad im kühlen Brackwasser zu nehmen. Ich habe neulich ein schönes Zitat von Henry Rollins gelesen, es lautet sinngemäß: "Mach' es oder lass' es, es gibt nur wenige Dinge im Leben, die so einfach sind." Vega scheint diese Lektion begriffen zu haben, denn eh man sich versah, stand der Hüne bereits nur mit Unterhose bekleidet ausserhalb der Reling und machte einen Köpper, dessen Ausführung Leni Riefenstahl sicherlich zum Schwärmen gebracht hätte. Wenig später finden sich zahlreiche Epigonen für Vegas Triumph des Willens und ich habe im Anschluss das Vergnügen, mich vor der Abfahrt nach Stuttgart von einer bibbernden Meute verabschieden zu dürfen.


Auf der Rückfahrt muss natürlich die erste Halbzeit Deutschland gegen Irgendwen im Radio gehört werden. Ich mache die Beaker Abwinke-Hand und stopfe meine Gehörgänge mit Gummistöpseln zwecks Beschallung zu. Schon bald schlummere ich zu irgendeiner Radau-Musik ein. 
Chris sitzt am Steuer, und auf Grund seines gewohnt rabiaten Fahrstils habe ich alle paar Minuten Gelegenheit, mir den Sabber vom Kinn zu wischen, meinen Unterkiefer zu korrigieren und, das ist neu, dem Gepöbel Bonzos zu lauschen. Das weckt mein Interesse und ich nehme die Kopfhörer kurz ab. Es stellt sich heraus, dass der bierselige Schlagzeuger eine Vielzahl an Verbesserungsvorschlägen für das Spiel der Deutschen Elf bereithält. Seine Kritik soll im Laufe des Abends immer vehementer werden und mit Hausverbot in einer Feuerbacher Kneipe enden.


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Ausflug nach Halver 

Beim Load-In am Proberaum weiss ich von der ersten Minute an meine schlechte Laune zu verbreiten: Ein Bandkollege klärt mich über die Besitzverhältnisse eines der Schlafsäcke auf und ich pariere sofort mit donnerndem Groll auf seine Klugscheisserei. Das Augenrollen vom Rest der Meute hinter meinem Rücken kann ich mir vorstellen. 
Es ergibt sich beim Platz Nehmen im Bus, dass ich neben Hagen sitze. Reichlich Konfliktpotential! Aber ich bin wie immer gut ausgerüstet, die geräucherten Mett-Enden habe ich schneller gezogen, als ein texanischer Hilfs -Sherriff seine Achtunddreissiger. Wir nicken uns staatsmännisch zu. 
Das Murrweiss-Mobil ist noch keinen Kilometer gefahren, ich habe bereits ein paar bissige Kommentare zur Sinnhaftigkeit der anstehenden Konzertreise abgegeben, als ich merke was von Jogges' Seite heute geschissen wird. Offensichtlich hat er es sich zur Aufgabe gemacht, mir für den Rest des Tages in den Arsch zu kriechen, um meinen Unmut zu besänftigen. Jeder meiner Äusserungen wird von ihm eifrig beigepflichtet; er schlägt sogar vor, mich doch für die Fahrt das Regiment über die Musikbox übernehmen zu lassen. 
Sobald es im allgemeinen Freitagabend-Geplänkel eine knifflige Frage zu erörtern gilt, schaut er mich während seiner Ausführungen an wie ein devoter Hund. Ich besitze plötzlich die Macht, nur durch meinen wohlwollenden oder strafenden Blick seine Aussagen beliebig zu lenken. Ich muss zugeben, dass diese Art von Austausch mit meiner Umwelt gar nicht so unangenehm ist. Dann und wann muss ich aber meinen Jünger dazu ermahnen, den Bogen nicht zu überspannen. Denn übertriebene Unterwürfigkeit driftet allzu bald in Ironie ab, was ich natürlich unter keinen Umständen dulden kann!
Jogges' Schleimspur ist bereits 200 Kilometer lang, als mich sein Gehabe ein wenig zu langweilen beginnt. Ich verlange mehr. Folgendes habe ich, vor allem in Szene-Kreisen schon oft beobachten dürfen: Es gibt immer wieder diese latent unterwürfigen Neulinge, die sich von dem Szene-Guru Anerkennung erschleichen wollen, indem sie versuchen, möglichst "krass" zu wirken. Gerne wird dann und wann irgendeine Posse gerissen, wie z.B. der Sprung vom Venue-Dach in den mit metallenem Unrat gefüllten Müllcontainer, um direkt im Anschluss mit verstohlenem Blick zu checken, ob es "der Meister" auch gesehen hat. 
Ich gebe Jogges zu verstehen, dass derartiges Verhalten nun von mir ausdrücklich erwünscht ist.
Bei der nächsten Pinkelpause auf dem Autobahnparkplatz springt er im Salto kurz behost mitten rein in ein Meer aus Brennesseln und macht sein kleines schmutziges Geschäft. Sein prüfender Blick zum Meister ist schöner als ein Sonnenuntergang in Castrop-Rauxel. 

Normalerweise behalte ich meinen ausgezeichneten Musikgeschmack gerne für mich, heute folge ich aber dem Betteln meines Höflings Jogges, etwas Musik aufzulegen. Zu diesem Zweck wird mir der mit dem Murrweiss-Soundsystem verbundene iPod gereicht. Das antike Gerät stammt aus Hagens Hausrat und ich muss mich zuerst mit der widerlich vergilbten Silikonhülle und danach mit der umständlichen Clickwheel Steuerung anfreunden. Das Abspielgerät wirkt so veraltet, als käme es direkt aus Edisons Bastelstube. Mich erinnert die Szene an die, als ein jüngerer Freund, der einst bei mir zu Besuch war, versuchte einen Anruf von meinem Haustelefon zu tätigen (die Geschichte ist bereits so alt, damals gab es noch keine Handies). Der ungebildete Tor drückte völlig verzweifelt in die Löcher der Wählscheibe meines Bakelit-Telefons. Er gab nach mehreren Erklärungsversuchen meinerseits, wie es zum Aufbau einer Leitung kommt, auf. 
Die Suche nach hörbaren Audiodateien auf Hagens iPod gestaltet sich, wie erwartet, schwierig. 
An der Masse an Titeln lag es gewiss nicht, hatte sich Hagen doch damals in den 80ern den iPod 30GB rausgelassen; eher die Auswahl der magnetisch gespeicherten musikalischen Machwerke lässt für mein Empfinden viele Wünsche offen. Beim Durchstöbern eines Fremd-Gerätes nach Interpreten und alphabetischer Sortierung, sollte man spätestens beim Buchstaben "B" auf mindestens eine brauchbare Band mit dem Wort "Black" am Anfang stossen. Dies ist bei dem vorliegenden Gerät leider nicht der Fall. Anstössiges Liedgut brauche ich bei einem Gerät des Herrn Schulz übrigens gar nicht erst suchen , ein vorauseilender Blick in die Kategorie "S" erübrigt sich somit . 
Ich werde erst bei "Carcass" fündig. Begeistert speise ich die "Heartwork" sogleich in das System ein und beginne mit meinen üblichen Schwärmereien. "Beste Platte ever , ever , ever!", "Könnte ich immer hören!", etc. 
Auch Hagen gerät ins Schwärmen: "Hey Kehbel, da haben wir ja was gemeinsam!!!" Take five. "Mensch Kehbel, finde ich richtig dufte, dass wir uns so verstehen! Wir haben übrigens gleich zwei Dinge gemeinsam: Die Liebe zu Carcass und zu deiner Frau!" Ich ergänze: "Wir haben sogar drei Sachen gemeinsam: Die Liebe zu Carcass, meiner Frau, und zu Born Against! Bin eben beim Durchscrollen darauf gestossen!" "Aufgelegt" habe ich die New Yorker Polit-Ranzis allerdings nicht, zu schrullig für eine heitere Autofahrt. 
Hagen und ich beschliessen, uns auch mal privat zu treffen.


Zwischendurch kommt während der Fahrt die Frage auf, ob es in unseren Kreisen erlaubt sei, Franzosen im Internet als "Froschfresser" zu titulieren. 
Diese tiefgründige Frage wird, wie ich erfahre, zur Zeit auf "Facebook" im erweiterten Freundeskreis hitzig diskutiert. Ich denke mir "Wen interessiert's?! Wegen dieser Kindereien bin ich zum Glück aus dem Verein ausgetreten!", sage aber: "Natürlich darf man! Das sind liebenswürdige Neckereien, von denen auch innerhalb meiner Deutsch ("Kartoffel") - Türkischen ("Kanacken") Familie gerne Gebrauch gemacht wird."
Die meisten im Bus sind NATÜRLICH völlig anderer Meinung, doch zähneknirschend pflichtet Jogges mir bei. 

Nach Verlassen der Autobahn gurken wir noch eine gute Stunde über einsame Landstraßen. Langsam begreifen meine schwäbischen Freunde, dass die Show nicht im "Pott" ist, wie seit Wochen immer wieder gerne kommuniziert, sondern am Arsch der Welt, irgendwo im Bergischen Land . Als gebürtiger Wuppertaler ist mir die besagte geografische Lage natürlich bestens bekannt, während meine Bandkollegen sich sogar schwer tun, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein auseinanderzuhalten. 
Ich hatte bereits mitbekommen, dass es sich bei der Veranstaltung um ein "Festival" handelt und war auf Schlimmes gefasst; als wir jedoch das Gelände erreichen, komme ich aus dem "Oh Gott ... Oh Gott ..." - Murmeln nicht mehr raus. Es gibt Ordner mit Headsets, allerlei Buden, die jedweden HC-Nippes verhökern, und sogar einen Star Wars Stormtrooper, der zwischen den Besuchern herumstakst. Ich denke mir "Jetzt fehlen ja nur noch die Jägermeister-Tussis!". Sofort wird mir klar, dass ich mit Stoffhose und Hawaiihemd dem Dresscode der hiesigen Szene nicht entsprechen kann. Das Gros der Besucher ist noch sportlicher gekleidet, als man das selbst im tiefsten Osten Deutschlands gewohnt ist. Wie ermutigend es dann ist, einen anderen Freigeist vom afrikanischen Kontinent zu treffen, der modisch genau wie ich gegen den Strom schwimmt!
Bizarrer Weise findet das ganze Spektakel nicht draussen auf der Wiese statt, sondern mitten im Ortskern des 500-Seelen-Dorfs Halver. Die Bühne befindet sich unter einer Art Pavillon, zu dem frontseitig mehrere überdimensionierte Stufen führen. Das Ganze mutet somit an, wie eine Mischung aus "Opferritual in der Azteken-Stadt" und Schützenfest. 
Wie ich bald erfahre, dient der ganze Spuk einem wohltätigen Zweck (irgendwas mit Afrika), ergo gibt es auch keinen Zaster, noch nicht mal Spritgeld. Astrein. 
Diametral entgegengesetzt zum Aztekentempel gibt es auf dem Festivalgelände noch eine kleine Bühne, auf der sich Singer/Songwriter abrackern dürfen. Ich bin weiss-Gott kein Genre-Sklave und lausche neben der ganzen Rumpelmusik auch gerne den leiseren Tönen, zum Beispiel dem sehr gefühlsbetonten Bossa Nova, aber es gibt eine Sparte der sanften Musik, die ich abgrundtief hasse: Singer/Songwriter. Missgunst für etwas zu empfinden, bedeutet aber nicht, das Objekt der Verachtung permanent zu meiden. Also gehe ich zur kleinen Bühne, um meinen inneren Dämon zu füttern. Der Tisch ist wohl gedeckt, trällert doch der zur Zeit spielende Gitarrenbarde allerhand Plattitüden auf englisch ins Mikro: "Ich bin ein Buch und Du darfst jeden Tag in mir lesen.", oder: "Mein Leben ist ein Film, in dem ich nicht der Regisseur bin.". Sollte die Schokoladenmarke "Merci" jemals eine Konfektsammlung namens "Weltschmerz" lancieren, möchte ich diesen singenden Jüngling für die Komposition eines geeigneten Jingles vorschlagen.


Die bleierne Zeit bis zum Auftritt erweist sich als besonders schwer und der stetige Wechsel von Balla Balla Musik auf der grossen Bühne mit Heulsusen Geschrammel auf der Kleinen macht es kein' Deut besser. Kurz vor unserem Auftritt gehe ich noch mit Nico und seinem vorlauten Kumpel auf den Parkplatz rauchen. 
EPM besteigen den Azteken Tempel, müssen aber noch gefühlt mehrere Monde warten, bis auf der gegenüberliegenden Bühne die Dresdner Philharmoniker, die sich offensichtlich an diesen Ort verirrt haben, mit ihrem Streichkonzert fertig sind. 
Endlich Showtime. Wer den Eindruck bekommt, ich hätte bisher nicht viel Positives vom Festival zu berichten gehabt, liegt ganz richtig. Wie immer bin ich aber geil auf's Spielen wie der Hund auf den Knochen. Das Publikum ist gelangweilt bis mäßig interessiert. Sind wir im Osten? Mir egal, ich habe meinen Spass; der Dämon will raus. Ich begebe mich alsbald zum Fuss des Tempels, um Schweiss und Mucus besser unter die Leute bringen zu können. Glücklicherweise habe ich in weiser Voraussicht vor dem Auftritt den Soundmann um ein neun-Meter Kabel gebeten, damit ich mit meinem Bass auf Wanderschaft gehen kann.
Der Sound bei uns ist, wie bei allen anderen Bands auch, beschissen. Im Song steige ich die zyklopischen Treppen wieder hinauf und stelle fest, dass sich der akustische Eindruck stark verbessert, wenn man zwei Zentimeter vor der Anlage steht, was mich noch mehr anstachelt. 

Abschließen möchte ich mein kleines Essay mit der Beschreibung einer schönen transatlantischen Begegnung. Nach dem Set rauchen Jan und ich noch eine Zigarette mit dem Brasilianer, der schon die ganze Zeit im Backstage-Bereich zusammen mit einer attraktiven, wenn auch reiferen Dame herumlungert. Der Südamerikaner ist im Stil des Favela-Gangsta-Rap eingekleidet und von Kopf bis Sohle mit allerhand Blödeleien tätowiert. Wir unterhalten uns recht angeregt und der zwei-Meter-Mann erzählt, dass er gerade mit seiner Frau die Flitterwochen in der Deutschen Hardcore-Szene verbringt. Ich male mir aus, wie die entsprechende Katalogseite im brasilianischen Reiseprospekt wohl aussieht. Womöglich ist sie reich bebildert mit Szene-Typen in Sportklamotten, die vor bergischen Fachwerkhäusern stehen und rauchen.